Der Jäger und sein Opfer – Teil 1
Prolog
Mein Name ist Amelie. Ich wurde kurz bevor alles begann achtzehn jährig und hier ist meine Geschichte die mich nachhaltig veränderte.
Meine Eltern trennten sich kurz vor Ende des vergangenen Jahres. Es überraschte mich nicht, denn ihre Ehe lag seit Jahren in Trümmern. Affären gehörten wohl zur Natur meines Vaters, der nie sonderlich herzlich war. Doch eines Tages erwischte ihn meine Mutter mit einer anderen Frau in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Da packte sie sofort ihre und auch meine Sachen.
Überstürzt zogen wir in die nähe ihrer alten Heimatstadt in eine kleine Wohnung. Ich verlor meine Freunde, mein zu Hause und alles was mir bis dahin lieb und teuer war. Ich ertrug es in einer Art inneren Leere und versuchte meine Niedergeschlagenheit nicht zu zeigen. Denn auch meiner Mutter ging es schlecht. Eine Zeit lang fürchtete ich, dass sie ihren Lebenswillen verlieren würde. So stützte ich sie wo es nur ging und versuchte es ihr nicht noch schwerer zu machen, als es bereits war. Niemals beklagte ich mich.
Nach ein paar Wochen fasste meine Mutter neuen Mut und fiel wieder auf ihre Beine zurück. Sie reichte die Scheidung ein und suchte nach einem Weg, unseren Lebensunterhalt zu bestreiten. Mein Vater überwies ihr zwar Geld, doch sie wollte es nicht. Das liess ihr Stolz nicht zu. So suchte und fand sie bald eine Anstellung als Spezialistin für internationales Vertragswesen und ging wieder arbeiten.
Ihr Job war zwar recht gut bezahlt, dafür aber anstrengend und von einer geregelten Arbeitszeit konnte keine Rede sein. Ich war viel allein. Eines Tages schlug ich daher meiner Mutter vor, mir eine eigene Wohnung zu nehmen. Zuerst war sie bestürzt und glaubte sich zu wenig um mich gekümmert zu haben. Ich erklärte ihr ruhig, dass dem nicht so sei. Zufällig sei ich aber zu einem Zeitpunkt, zu dem sie gerade versuchte ihr eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen volljährig geworden. Ich empfand es als eine gute Idee nun auf eigenen Füßen zu stehen.
Ich wollte in der Nähe bleiben, so dass wir uns gegenseitig stützen könnten, wenn es Not täte. Da sie außerdem den Unterhalt meines Vaters nicht wollte, er aber auf der anderen Seite nicht ungestraft davon kommen sollte, könnte ich mit seinem Geld ganz gut den Start in mein eigenes Leben finanzieren. Nach langem hin und her stimmte meine Mutter schließlich zu. Es würde das Beste für uns beide sein.
Ich fand schnell eine ganz brauchbare Wohnung in einem Altbauviertel. Die Miete war bezahlbar, was wohl vor allem an dem wenig ansprechenden Äußeren der Siedlung lag. Aber mir gefiel es und ich zog nur vier Wochen nach unserem Gespräch in meine eigene Wohnung.
Mein Vater zeigte sich großzügig. Er überwies mir einen stattlichen Geldbetrag, mit dem ich mich ganz gut einrichten konnte. So lebte ich nun allein und genoss die Ruhe in meinen eigenen vier Wänden.
Trotz dieser weiteren Veränderung blieb mir die neue Umgebung fremd. In der Schule fand ich zwar Anschluss, doch es blieb bei einem freundschaftlich oberflächlichen Kontakt. Allein zu meiner Banknachbarin entwickelte ich ein engeres Verhältnis. Sie war lebenslustig, sehr hübsch und hatte es faustdick hinter den Ohren. Helena kam aus einer sehr wohlhabenden Familie. Zweimal besuchte ich sie zu Hause, in einer echten Villa.
Ihre Mutter war früh gestorben und sie lebte mit ihrem Vater zusammen, der allerdings selten zu Hause war. Er führte seine eigene Firma und ließ seine Tochter im übrigen ihr Leben selbst gestalten. Daher verband uns, dass wir beide nur noch ein Elternteil hatten, zu dem eigentlich auch kaum Kontakt hatten.
Davon abgesehen verlief mein Leben ziemlich monoton, ohne große Aufregungen. Dann lud mich Helena zur Feier ihres eigenen achtzehnten Geburtstages ein. Sie wollte eine riesige Party zu Hause geben. Ich war mir sicher, es würde das Ereignis des Jahres werden.
Episode 1 – Freitag
Helena schlängelte sich durch die Reihen der Gäste und begrüßte jeden, der gekommen war. Auf der großen Wiese hinter dem parkähnlichen Garten war ein gewaltiger Pavillon aufgestellt. Drei Angestellte eines Partyservices bedienten an einer Bar in der Mitte unter dem Zeltdach. Diese Party musste zweifellos eine Menge Geld kosten.
Ich stand etwas abseits, am Rand des großen Pavillons. Zwar unterhielt ich mich dann und wann mit jemandem, den ich aus der Schule kannte, aber es blieb oberflächlich freundlicher Smalltalk. Wieder einmal wurde mir schmerzlich bewusst, wie wenig ich eigentlich dazu gehörte. Ein heftiger Anfall von Heimweh keimte in mir auf.
In diesem Moment tauchte Helena vor mir auf. „Na Kleine,“ lachte sie mich mit einem verschwörerischen Lächeln an, „schau dir die Kerle hier gut an. Das ist seit langem die beste Gelegenheit, das Angebot zu prüfen.“
Auch ich musste lachen. Helena kannte hinsichtlich ihrer Sexualität nur wenig Hemmungen und war hier von einer manchmal erschütternden Offenheit. Ich war da — leider – ganz anders.
„Du wirst sicher deinen Favoriten finden.“ munterte Helena mich auf. Sie besaß die liebenswerte Gabe mit ihren feinfühligen Antennen die Gefühle andere gut spüren zu können. Dann hielt sie mir ein kleines Päckchen hin. „Du hattest doch auch vor nicht allzu langer Zeit Geburtstag? Nun, ich möchte dir dazu nachträglich ein kleines Geschenk machen. Ich sage es gleich vorweg, es war tierisch teuer. Doch du brauchst dir deshalb keinerlei Gedanken machen. Es ist vom Geld meines Vaters bezahlt, und der hat schließlich genug davon. Nimm es einfach als ein Zeichen, dass ich dich ganz besonders gern habe.“
Etwas irritiert und völlig überrascht nahm ich das kleine Päckchen. Helena lächelte mich an und verschwand schon wieder in der Menge. Unschlüssig drehte ich das in feinem Samt verpackte Kästchen in meiner Hand. Schließlich öffnete ich es. Mir verschlug es den Atem. Darin befanden sich ein paar goldene Ohrclips und ein goldener Armreif. Ich zweifelte nicht einen Moment, dass es echter Schmuck sei. Imitierte Modeschmuck sah ganz anders aus.
Im Schein der Party-Beleuchtung funkelten die Stücke verführerisch. Ich sah hinüber zum Haus. Einige der Gäste schlenderten hinein und wieder heraus. So ging ich auch hinüber.
Ich betrat das Haus über die große Terrasse. Eine gewaltige Halle teilte das luxuriöse Gebäude in zwei Teile. Oben verband eine Balustrade die Räume der ersten Etage. Ich ging die breite Treppe hinauf, denn ich wusste dort oben Helenas eigenes Bad. Nur zu gern wollte ich den Schmuck anprobieren, natürlich allein und in Ruhe. Dort oben würden sich wahrscheinlich keine Gäste aufhalten.
So war es auch. Es war still und niemand würde mich hier stören. Ich ging in das Bad und legte vor dem großen Spiegel die Schmuckstücke an. Ich fand, dass sie mir hervorragend standen. Als ich den Armreif genauer ansah, erkannte ich erst, dass er eine äußerst feine, fast unsichtbare aufwendige Gravur trug. Ich erkannte im Licht der Lampe schemenhaft Figuren und Ornamente. Sie waren so fein abgebildet, dass man wohl nur mit Hilfe eines Vergrößerungsglases Details erkennen konnte. Einer plötzlichen Eingebung folgend nahm ich Helenas Lippenstift. Damit schrieb ich ihr ein Dankeschön auf den Spiegel.
Ich verließ das Bad wieder. Hier oben herrschte eine sehr angenehme Ruhe, gegen den Lärm unten im Garten. Mein Blick fiel in einen großen Raum, dessen Tür offen stand. Ich sah sofort, dass es eine Bibliothek war. Langsam ging ich hinein. Indirekte Beleuchtung verbreitete ein angenehmes Licht. Die Büchersammlung war beachtlich und die Regale nahmen alle vier Wände ein. In der Mitte des Zimmers befand sich eine gemütliche Ledersitzgruppe, die um einen edlen Marmortisch geordnet standen.
Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch, mit dem Rücken nach oben. Ich ging die Regale entlang und betrachtete die Bücher. Der eine oder andere Titel sagte mir etwas, denn ich las gern und viel in meiner Freizeit.
„Der Schmuck steht ihnen vorzüglich, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“
Erschrocken fuhr ich herum. In der Tür stand ein Mann mittleren Alters. Er war groß und trug legere Freizeitkleidung, die aber erkennbar nobel war. Sein Gesicht war braun gebrannt. Zwei Augen blitzten mich keineswegs unfreundlich an. Gerade seine Augen waren es, die mich ahnen ließen, das er Helenas Vater war. Sein gepflegt kurz geschnittenes Haar zeigte deutliche graue Strähnen, die ihm jedoch gut standen. Er lehnte lässig am Türrahmen, die Hände in den Hosentaschen.
Ich wusste vor lauter Verlegenheit zuerst nicht, was ich sagen sollte. „Danke.“ Presste ich schließlich mit rauer Stimme heraus. Ich spürte förmlich den Kloß in meinem Hals. „Sie haben eine bemerkenswerte Büchersammlung.“ Ich versuchte von meiner Unsicherheit abzulenken.
„Ohne Bücher würde sich die Menschheit noch in einem sehr primitivem Stadium befinden. Außerdem bin ich der Ansicht, dass Schreiben, wie im übrigen alle schaffenden Künste, zu den herausragenden Fähigkeiten des Menschen gehört. Erst unsere Phantasie, die ungeheure Macht der Vorstellungskraft, erhebt uns zu den Herrschern dieses Planeten. Wir dokumentieren diese Fähigkeit in Malerei, Musik, Bildhauerei, Architektur, vielem anderen und eben auch in der Literatur. In dieser Bibliothek befinden sich zum Teil sehr alte Werke, heute fast unbezahlbar.“
Der Hinweis auf den hier stehenden Wert mancher Bücher ließ mich kurz zusammen fahren. Ich kam mir wie ein Dieb vor, auch wenn ich nichts stehlen wollte. Nervös rieb ich meine schwitzenden Hände aneinander. „Sie sind Sammler?“
„Natürlich. Diese Kostbarkeiten sind meine geheime Leidenschaft. Möchten sie etwas trinken? Ich kann ihnen einen vorzüglichen schottischen Whisky anbieten.“ Er öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten, eine unweit der Tür im Bücherregal eingebaute Bar und nahm eine Flasche heraus. „Diesen ausgezeichneten und meines Erachtens nach einmaligen Tropfen konnte ich unlängst auf einer Auktion auf den Inseln ersteigern.“ Er hielt mit fragendem Blick zwei Gläser hoch.
Immer noch verwirrt nickte ich fast mechanisch. Ich fühlte mich zwar von seinem angenehmen Wesen eingenommen, anderseits aber von der überraschenden Situation zugleich auch befangen und leicht unwohl.
Der Mann füllte dessen ungeachtet Eis in die Gläser und schenkte ein. Dann brachte er die beiden Gläser zum Marmortisch. „Setzen wir uns doch und plaudern ein wenig.“ Einladend deutete er auf die Sitzgruppe.
Ich setzte mich in einen der Sessel neben ihm. „Sie sind Helenas Vater?“ fragte ich, um überhaupt etwas zu sagen.
Er riss überrascht die Augen auf. Dann lächelte er mich entschuldigend an. „Ich bitte um Verzeihung. Selbstverständlich sollte ich mich vorstellen. Sie haben recht, ich bin Helenas Vater. Nennen sie mich Valentin.“ Er reichte mir seine Hand.
„Ich bin Amelie.“ Erwiderte ich mit einem leichten Kopfnicken. Seine Hand fühlte sich stark an.
„Ja, Helena hat mir schon von ihnen erzählt.“ fuhr er schon fort. „Es freut mich sehr, eine so attraktive junge Freundin meiner Tochter kennen zu lernen.“
Das Kompliment lief angenehm meinen Rücken hinunter. Ich erröte. Es gelang ihm ganz offensichtlich mit Leichtigkeit, mich unablässig zu verwirren.
Diesmal überspielte er meine Verlegenheit, in dem er mir das Glas reichte. „Lassen sie uns auf unsere Bekanntschaft trinken.“
Ich nahm das Glas, prostete ihm zu und trank einen Schluck. Die scharfe Flüssigkeit brannte sich meinen Hals hinunter. Beinahe hätte ich gehustet. Ich konnte mich gerade so beherrschen und versuchte mir nichts anmerken zu lassen.
„Sie begeistern sich für Literatur?“ nahm Valentin das Gespräch wieder auf.
„Ja.“ Bestätigte ich. „Aber mein eigentliches Hobby ist die Fotografie.“
„Interessant. Bevorzugen sie bestimmte Motive?“
„Neben Landschaftsabbildung fotografiere ich sehr gern Menschen. Besonders faszinieren mich ausdrucksstarke Impressionen von Gefühlen.“
„Kennen sie Alwin Szynalski, den Altmeister der Körpersprache in der Kunst der Fotografie?“ fragte er interessiert.
„Nein, ich habe mich offen gesagt bisher kaum mit den Werken anderer auseinander gesetzt. Hin und wieder besuche ich gern eine Ausstellung. Aber das war es dann auch schon.“
„Szynalski sagte einmal, gegen die Ausdruckskraft des weiblichen Körpers ist gegen die des Mannes im selben Verhältnis zu sehen wie die Werke von Rubens gegen Graffiti-Schmierereien in der New Yorker U-Bahn.“ Valentin lachte. „Nach Meinung der Fachwelt war er ein Virtuose der Kamera. Möchten sie sich ein paar seiner Bilder ansehen. Ich habe die letzte ausgegebene Sammlung seiner Bilder hier?“
„Gern.“
Valentin ging zu der Bücherwand und griff zielsicher ein Buch heraus. Er legte es vor uns auf den Tisch. Das Cover zeigte die Schwarzweiß-Fotografie einer Frau, die nur sehr spärliche Lederunterwäsche trug. Sie war in eine Art Holzrahmen in Form eines X gekettet. Vom Bildrand her schlug eine Peitsche nach ihr. Man konnte nicht sehen, wer die Peitsche führte. Die Peitsche traf die Frau an ihrer linken Seite, auf Höhe der Brust. So weit die Ketten es zuließen, versuchte sie sich dem Schlag zu entziehen. Ihr Körper war schweißgebadet, das Gesicht zu einer Mischung von Hingabe, Agonie und Schmerz verzerrt. Am Fuß des Covers stand mit kleinen Lettern „Alwin Szynalski — Die Bilder des Meisters“.
„Sein Leben war ein fortlaufender Skandal.“ Erklärte Valentin, im übrigen nicht im geringsten verlegen wegen des sehr anzüglichen Bildes. „Der Herausgabe dieses Bandes, die im übrigen gut eine Woche nach seinem Tod erfolgte, folgte ein allgemeiner Aufschrei des Protestes. Der Band war am ersten Tag ausverkauft. In seinem Testament bestimmte er, dass nach seinem Tod kein Werk von ihm mehr aufgelegt werden dürfe. Ich fürchte, der Verlag wird ihn heute noch dafür verfluchen. Dieser Band wird heute unter seinen Anhängern zu Schwindel erregenden Preisen gehandelt. Es gibt nur diese erste Auflage.“
Der Whisky löste mich etwas. Valentin schien von der selben direkten Art wie seine Tochter zu sein. Im übrigen fand ich, konnte er hervorragend und mit einer sehr angenehmen Stimme erzählen. „Wie kamen sie zu dem Buch?“
„Oh, ich gehörte zu den Glücklichen, die es bereits vorab bestellt hatten. Als großer Bewunderer des Meisters war das für mich obligatorisch.“ Valentin schlug die ersten Fotos auf.
Sie zeigten allesamt Frauen in devoten oder provozierenden Posen, mal mehr, mal weniger bekleidet. Man hätte es durchaus als Pornografie bezeichnen können, doch ich erkannte die Ausdruckskraft darin, sah, wie gut die Einstellungen gewählt waren, wie wahrhaftig meisterhaft mit dem Licht gespielt wurde. Außerdem hatten die Minen der Frauen etwas faszinierend sinnliches und reales. „Die Bilder sind wunderschön. Die Gesichter der Models sehen überaus realistisch aus.“
„Szynalskis Werke erregten nicht allein wegen ihres Inhaltes oder der Art der Darstellung Empörung. Er ließ den Models tatsächlich Schmerz zu fügen. Die Peitsche auf dem Cover zum Beispiel traf tatsächlich. Die Gesichter des Schmerzes sind nicht gestellt.“
„Das haben die Frauen freiwillig mitgemacht?“ fragte ich ungläubig.
„Szynalski war ein Fotograf, dem die Models die Tür einrannten. Vor jeder neuen Fotoserie wählte eine Agentur aus einer erheblichen Anzahl von Bewerberinnen aus. Und alle wussten, dass Szynalski der Fotograf sein würde und man kannte auch die Art seiner Serien, einschließlich seines Wunsches nach Authentizität.“
Ich sah mir nachdenklich weitere Bilder an. „Unvorstellbar.“
„Sagen sie das nicht. Er war ein Star der S/M-Szene an der Ostküste. Seit seinem Tod sind eine Reihe von Biografien erschienen, die Gerüchte und Tatsachen über sein bewegtes Leben veröffentlichten. Er war auf seine Art einmalig. Besonders berüchtigt ist die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin. Er hat niemanden öfters abgebildet als sie. Doch niemals veröffentlichte er eines ihrer Bilder. Die gesamte Sammlung liegt heute angeblich im Tresor einer Bank. Er hielt diese Frau wie eine Sklavin. Zumindest in der Szene tat er das auch öffentlich. Zahlreiche Autoren berichten übereinstimmend von überaus bizarren Dingen. Obwohl er sicher kein attraktiver Mann im klassischen Sinne war, ging von ihm eine Ausstrahlung aus, welche Frauen geradezu magisch anzog. Erzählungen über S/M-Orgien in seiner Villa sind heute legendär.“
Ich konnte nicht bestreiten, dass die Bilder ästhetisch waren. Die in der Tat spektakulären Motive, dazu Valentins Erzählungen sowie der Whisky versetzten mich in einen eigenartigen Zustand, in dem die zahlreichen Fotos vor meinem geistigen Auge zu leben begannen. Ich ertappte mich dabei, wie ich selbst in meinem Wachtraum das Ziel einer Peitsche oder einer sehr obszönen Fesselung war. Ein angenehmer Schauer lief meinen Rücken herunter.
Valentin erzählte mir weitere schockierende und zugleich sehr erregende Geschichten aus dem Leben des Fotografen. Als wir das Buch schließlich durchgeblättert hatten, sah ich erschrocken auf die Uhr. Wir saßen bereits mehrere Stunden in der Bibliothek.
„Drängt sie ein Termin?“ fragte Valentin, der meinen Blick bemerkte.
„Nein, aber Helenas Party…“
„Ich denke, die Party kommt auch ohne sie aus.“ erwiderte er mit sonorem Lachen.
Das war zwar richtig, doch gab es auf der anderen Seite auch keinen Grund für mich länger mit Valentin hier zu sitzen. Doch irgend etwas hielt mich hier fest. Ich fand keine Worte, um mich höflich zurück ziehen zu können. So blieb ich sitzen.
Valentin schenkte einen weiteren Drink ein. „Wohnen sie weit von hier?“
Ich fand eigentlich, dass ihn das nichts anginge. Dennoch antwortete ich. „Ein ganzes Stück von hier.“ Ich nannte ihm den Stadtteil.
Offenbar wusste er, dass es sich dabei nicht gerade um eine erste Adresse handelte. Er sah kurz auf.
Irgend wie traf mich das. „Ich habe erst vor kurzem eine eigene Wohnung bezogen. Dort kann ich sie wenigstens bezahlen.“ stieß ich eine Idee zu hart heraus. Auch wollte ich ihm aus einem Grund, dem ich mir selbst nicht bewusst war, nicht mehr von mir erzählen. Ich lenkte daher das Gespräch auf das ursprüngliche Thema zurück. „Ich kann es offen gestanden nicht nachvollziehen, warum Frauen sich mit einem Mann wie Szynalski eingelassen haben.“
„Es gibt da eine andere interessante Erzählung.“ Valentin lehnte sich zurück und ließ sich versonnen in die Polster sinken. „Eines Tages interviewte eine junge Journalistin den Meister. Sie äußerte sich ähnlich wie sie soeben und fragte ihn, warum vernünftig denkende Frauen so etwas taten. Szynalski erwiderte ihr darauf, dass sie sich von der Vorstellung des Unangenehmen lösen müsse. Sie würde nur oberflächlich die Rolle des dominanten, sadistischen Mannes sehen und auf der anderen Seite die missbrauchte Frau. Das Leben sei aber nun mal in seiner Vielfalt und Schönheit nicht in solchen plumpen Maßstäben zu messen. Szynalski bezeichnete die Sexualität, gepaart mit der dem Menschen eigenen Gabe Phantasie zu entwickeln, als die höchste Form des Ausdrucks. Nichts würde uns mehr berühren, als absolute Erfüllung in der Sexualität. Nicht Liebe sondern Triebe seien entscheidend. Es läge in der Natur der Sache, dass es, wenn man es erst einmal schaffen würde sich dem engen Konzept überkommener Vorstellungen zu entziehen, eine unglaubliche Vielfalt in der Sexualität zwangsläufig die Folge wären. Zufällig komme das Spiel aus Dominanz und Unterwerfung unserem Urtrieb zur Vereinigung am nächsten. Darin läge die Motivation seiner Partnerinnen begründet. Szynalski bot der Journalistin eine Wette an. Sie solle sich eine Woche ihm hingeben. Wenn sie danach öffentlich weiter ihr Unverständnis bekräftigen würde, dann sei er bereit ihr eine Millionen Dollar zu zahlen.“
„Was tat die Journalistin?“ fragte ich gebannt.
„Was hätten sie getan?“ fragte Valentin.
Ich zögerte. „Ich glaube, man müsste selbst ein solches Angebot bekommen, um die Wahrheit heraus zu finden.“
Valentin trank nachdenklich an seinem Whisky. Seine Augen ruhten auf meinem Gesicht.
Ich fühlte mich höchst unwohl in diesem Moment. „Nein.“ Sagte ich da entschieden. „Ich glaube, ich würde mich nicht verkaufen.“
Peinliches Schweigen herrschte zwischen uns. Ich fühlte wie mein Puls pochte. Sein Blick ließ mich erschauern. Ich glaubte es nicht mehr aushalten zu können. Es wahr kein unangenehmes Gefühl in mir, eher wie ein Spiel mit dem Feuer. Wieder ergriff ein Traumbild von meinem Geist Besitz. In diesem Bild sprang Valentin auf und riss von irgendwo her eine Peitsche hervor. Er schlug mit dieser auf mich ein, peitschte mir die Kleider vom Leib und schrie dabei: „Nein, du würdest es freiwillig tun.“ Meine Hände bemühten sich meine Blöße zu bedecken, doch er schlug sie zur Seite und peitschte meine Brüste. Ich wimmerte dabei: „Ja, ich unterwerfe mich dir.“
Dieses Bild wurde für einen kurzen Moment derartig heftig in mir, dass ich förmlich zusammen zuckte. Ich spürte förmlich die Feuchtigkeit zwischen meinen Beinen. Ein unglaubliches Schamgefühl überkam mich. „Ich möchte jetzt gehen.“ Sagte ich mich mühsam beherrschend.
Valentin erhob sich sofort. „Wir haben die Zeit völlig vergessen. Es hat mich wirklich sehr gefreut, eine solch anspruchsvolle Unterhaltung mit ihnen geführt zu haben. Sie sind eine bemerkenswerte junge Frau.“
Seine Komplimente schmeichelten mir. Etwas zu hastig ging ich zur Tür. Erst dort sah ich wieder auf die Uhr. Ich erschrak erneut bei Blick auf die Zeiger. Es war bereits vier Uhr morgens.
„Wenn sie wollen, fahre ich sie gern nach Hause. Um diese Zeit sollten sie nicht mehr allein unterwegs sein.“
Sein Angebot klang ehrlich und er hatte recht. „Ich glaube, ich würde das gern annehmen.“
„Ich führe sie zur Garage.“ sagte Valentin.
Wir gingen die Treppen hinunter. Im Garten räumte der Partyservice gerade ab. Gäste sah ich keine mehr. Über einen Gang gelangten wir zu der rechts am Haus angebauten Garage. Valentin öffnete mir galant die Beifahrertür zu einer großen und teuren Luxuslimousine. Dann stieg er selbst ein. Wir fuhren schweigend in die Nacht hinaus. Eine Unterhaltung wollte nicht mehr so recht aufkommen. Ich dirigierte ihn bis zu meinem Wohnhaus. Wir verabschiedeten uns.
Bevor ich die Tür zuschlug beugte ich mich noch einmal hinein. „Wie entschied sich die Journalistin?“
Valentin sah mich an. „Es sind ihre Bilder, die heute in einem Tresor lagern. Sie wurde seine Frau.“
Episode 2 – Montag
Das lange Gespräch mit Helenas Vater hatte mich mehr mitgenommen, als ich mir zuerst eingestehen wollte. Über das Wochenende gingen mir seiner zugegeben sehr inspirierenden Erzählungen kaum aus dem Kopf. Die ungewöhnlichen Bilder und das seltsame Genie des Fotografen verursachten Gänsehaut. Immer wieder erregten mich dabei Gedankenfetzen, in denen ich im Mittelpunkt stand. Ich sah Valentin die Peitsche führen, wie sie meinen fixierten Körper traf und mich erbarmungslos zum Höhepunkt trieb.
In den folgenden beiden Nächten masturbierte ich heftig, immer wieder diese Bilder in mein Bewusstsein rufend. Ich sah mich nackt vor meinem Peiniger, meinen Körper ihm schutzlos ausgeliefert. Er peitschte mich überall, besonders und immer wieder meine Brüste. Danach, wenn ich meinem verzückten Körper die so heftig verlangte Erleichterung verschafft hatte, fühlte ich mich unglaublich befriedigt und schlief ein. Doch schon am nächsten Morgen tauchte die erotischen Sequenzen wieder auf und peinigten mich den ganzen Tag über.
Am Montag morgen war es mir sehr unangenehm auf Helena zu treffen. Ich hatte nicht nur ihre Party verlassen, sondern auch die ganze Nacht mit ihrem Vater verbracht, auch wenn wir uns nur unterhalten hatten. Wusste sie davon? Sollte ich es ihr erzählen? Die Ungewissheit und Unschlüssigkeit quälten mich. Ich entschloss mich, vorerst Helenas Reaktion abzuwarten.
Sie begrüßte mich fröhlich wie immer. Nicht nur sie, sondern die ganze Klasse schwärmte noch von der Party. Erst in der ersten Pause fragte mich Helena, wo ich während der Party abgeblieben sei. Sie hätte mich den Abend über nicht mehr gesehen.
Ich musste mich nun entscheiden. „Ich hab mich mit ein paar Leuten unterhalten. Aber irgendwie ging es mir nicht so gut. Daher bin ich früh heimgegangen.“ Ich log sie an und mir war dabei gar nicht wohl zumute.
Helena ließ nichts erkennen, ob sie meiner Lüge glaubte. Freundschaftlich knuffte sie mir in die Seite. „Mensch Mädel, so eine Chance lässt man sich doch nicht durch eine Unpässlichkeit entgehen. Die Kerle hätten dir zu Füßen gelegen.“ Sie sah mich lachend mit zusammengekniffenen Augen an. „Oder sollte ich doch mal nachfragen, welcher Junge ebenfalls gefehlt hat?“
In ihrem Lachen steckte keine Bosheit. Sie ahnte gar nicht, wie nahe sie schon der Wahrheit war und wie sehr ich zu kämpfen hatte, meinen Schock zu verarbeiten.
Wir schwatzten noch einiges belangloses Zeug. Auf jeden Fall wusste Helena nichts von meiner Unterhaltung mit ihrem Vater, was mich insgeheim aufatmen ließ.
Der Rest des Vormittages verlief ohne weitere Aufregung und ich kam schließlich am frühen Nachmittag aus der Schule nach Hause. Wie immer öffnete ich zuerst den Briefkasten. Ich fand nur den Brief von einem Amt darin. Danach ging ich nach oben und machte mir in der Küche ein einfaches Mittagessen.
Neben dem Küchenfenster hatte ich einen kleinen Tisch mit drei Stühlen platziert. Dort setzte ich mich zu Essen und sah in Gedanken versunken aus dem Fenster. Es war ein wundervoller Tag. Die Sonne strahlte und die Pflanzen zeigten das frische Grün eines freundlichen Frühsommers.
Da ich sehr oft allein aß war es eine feste Gewohnheit geworden während des Essens meinen Tagträumen nachzuhängen. Die Abwechslung des Schulalltages hatte mir gut getan und die Erinnerungen an das Wochenende begannen zu verblassen. Ich träumte vom Sommer, vom Baden und von Eiskaffee.
Da zerstäubte das Läuten des Telefons die angenehme Stille. Seufzend ging ich hinaus in den Flur und nahm das Mobilteil aus der Basisstation. „Amelie Frohwein.“
„Hallo, hier ist Valentin.“
Ich erkannte seine Stimme sofort. Die Überraschung schnürte mir für einen Moment jedes Wort ab. Ebenso plötzlich war die Erinnerung an den vergangenen Freitag wieder wach, sehr intensiv sogar. Der Anruf kam vollkommen unerwartet. Woher hatte er meine Telefonnummer? Hatte er Helena danach gefragt? Der Gedanke war mir sehr unangenehm. Noch um Fassung ringend erwiderte ich stammelnd den Gruß.
Doch Valentin ging darüber souverän hinweg. „Amelie, was halten sie davon heute Abend mit mir Essen zu gehen und bei einem gemütlichen Glas Wein die angenehme Unterhaltung vom Wochenende fortzusetzen?“
Wiedereinmal wunderte ich mich über seine sehr direkte Art. Seine Stimme klang ruhig, nicht im mindesten unsicher. Mich dagegen schockte die unerwartete Einladung richtiggehend. Wie kam er auf den Gedanken einer Schulfreundin seiner Tochter so etwas vorzuschlagen? Glaubte er wirklich, dass ich glauben würde, er möchte tatsächlich nur über Kunst mit mir reden? Er war mindestens doppelt so alt wie ich. Bin ich verrückt, wenn ich denke, dass er mehr von mir will? In mir herrschte in diesem Moment ein richtig gehendes Chaos. Ich brauchte nur nein zu sagen, und die Sache wäre überstanden. Innerlich focht ich einen erbitterten Kampf mit mir selbst.
„Ich würde sie abholen, sagen wir um 19:00 Uhr?“
Er ließ mir praktisch gar keinen Ausweg. Wie ferngesteuert hörte ich mich antworten. „Ja, sehr gern.“ Bin ich vollkommen verrückt geworden?
„Nun, dann bis nachher.“ Ich stammelte wieder etwas ähnliches zurück und legte auf. Ich war so aufgeregt, dass ich mich erst einmal setzen musste. Für einen Moment wollte ich ihn sofort zurück rufen und wieder absagen. Aber ich hatte nicht einmal seine Telefonnummer.
Ich könnte ihn einfach umsonst unten warten lassen, schoss es mir durch den Kopf. Nein, das traute ich mich nicht. Außerdem würde er wohl kaum untätig unten warten, sondern sicherlich zu meiner Wohnung herauf kommen. Dort hätte ich mich ja im Kleiderschrank oder in der Abstellkammer verstecken können. Ich benahm mich wie ein kleines, törichtes Mädchen. Die Selbstironie und eine wenig Selbstermahnung zur Ruhe halfen mir schließlich. Geh mit ihm essen, dachte ich. Männer sind nun mal so blöd und laden gern ein. Iss sehr gut und verabschiede dich wieder. Hoffentlich erfuhr Helena nichts darüber.
Und überhaupt. Mit Valentin essen zu gehen, warf ein weiteres Problem auf. Mit einem Schulfreund würde das höchst wahrscheinlich ein zwangloser Abstecher in das nächste Fastfood-Restaurant bedeuten oder vielleicht der gemütliche kleine Grieche um die Ecke. Aber mein Gastgeber heute hatte da sicher anderes im Sinn. Eigentlich war ich gegen die typisch weiblichen Problemstellungen kraft meiner Natur und meiner Stellung als Außenseiterin immun. Jetzt nicht mehr. Jetzt bekam eine Frage für mich bis heute völlig unbekannte Bedeutung. Was ziehe ich an?
Ich beschloss diese weltbewegende Antwort zu vertagen. Nervös räumte ich die Überreste meines Mittagessen ab und ließ mir dann ein Bad ein. Fast drei Stunden blieb ich in der Wanne. Das warme Wasser half mir, mich wieder zu entspannen.
Nach dem Bad aber drängte sich die Qual der Kleiderwahl mit Macht in mein Denken. Sollte ich etwas legeres anziehen oder eher etwas förmlicheres? Ich entschied mich schließlich für ein schwarzes Kleid, das ich sonst nie anzog. Es stand mir gut und war ein guter Mittelweg. Unter das Kleid zog ich einen weißen Body an, dazu weiße Segeltuchschuhe. Im Spiegel musterte ich mein Äußeres und war unzufrieden. Aber jetzt war es zu spät für Korrekturen.
Mit klopfendem Herzen schloss ich kurz vor sieben meine Wohnung ab und ging hinunter auf die Straße. Valentin kam in diesem Moment vorgefahren.
Er sprang federnd aus dem Wagen und öffnete mir galant die Beifahrertür. Bevor ich in das weiche Leder des Sitzes sank sah ich mich noch einmal verstohlen um. Wenn mich nur jetzt niemand sah.
Valentin stieg ohne Hast und frei von solchen Sorgen wieder ein und fuhr los. „Es freut mich wirklich, dass sie diese Einladung annehmen. Ich werde sie in ein gemütliches Seelokal entführen, das sich einer ausgezeichneten bürgerlichen Küche rühmen darf.“
Entführen! Das traf es wirklich. Wir führten weiter Smalltalk über belanglose Themen. Geschickt flocht Valentin dabei Komplimente über mein Äußeres ein. Seine ganze Natur strahlte Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit aus. Das half mir zu entspannen und dem Abend lockerer entgegen zu sehen. So erreichten wir das angekündigte Restaurant.
Schon der Parkplatz ließ Rückschlüsse auf Kundschaft und Ausrichtung des Restaurants zu. Es standen eine ganze Reihe von sündhaft teuren Fahrzeugen darauf und die gepflegte Anlage war bestens in Schuss. Mächtige Laubbäume säumten die Szenerie und durch das Laubwerk hindurch sah ich schon das Wasser des Sees in der Abendsonne glitzern.
Valentin war hier offenbar Stammgast, denn der Kellner begrüßte ihn beim Namen. Für uns war ein Tisch reserviert, zudem Valentin mich sehr galant führte. Mir entgingen nicht die verstohlenen Blicke einiger Gäste, die mich und Valentin musterten. In manchem glaubte ich förmlich lesen zu können, was sie dachten. Alter Geldsack und junge Hure oder in dieser Richtung. Es war mir sehr peinlich, löste aber auch sehr wohlige Schauer aus.
Valentin bemerkte das nicht oder, was wahrscheinlicher war, er ignorierte das mit seinem unerschütterlichen Selbstbewusstsein. Seine Gesellschaft tat gut und ich fühlte, wie die verlockende Süße seiner Dominanz mich einnahm und die Blicke der anderen Gäste geradezu an mir abperlten. Es machte Spaß mich mit einem solchen Begleiter sehen zu lassen.
Wir saßen auf einer Terrasse direkt am See. Der Ausblick war herrlich. Hinsichtlich des Essens hatte Valentin nicht zu viel versprochen, es war in der Tat ausgezeichnet. Die ganze Zeit über unterhielt mich Valentin. Ich sprach nicht übermäßig viel, was bei seinem Talent zur Unterhaltung auch nicht nötig war. Nach dem Essen bestellte er mit dem Gehabe des Kenners einen roten Wein. Als der Kellner unsere Gläser füllte, wurde wegen der zunehmenden Dunkelheit die Terrassenbeleuchtung eingeschaltet.
Valentin erhob das Glas. „Trinken wir auf den Augenblick und diesen Ort.“
„Auf die Schönheit der Natur.“ Ich prostete ihm zu. Ich trank und stellte das Glas wieder ab. Auch wenn ich es mir zuerst nicht eingestehen wollte, ich fühlte mich wohl. Valentin besaß Geschmack und vollendete Manieren. Ich bewunderte wieder seine Fähigkeit, mich zu unterhalten. Mein Blick schweifte verträumt über den See.
Links von uns befand sich am Steilufer eine barocke Villa, deren verspielte Fassade raffiniert von einem warmen Licht beleuchtet wurde. Es ähnelte einem Märchenschloss, das majestätisch über dem stillen See thronte.
Valentins Augen waren offenbar meinem Blick gefolgt. „Man nennt es das Château.“ erklärte er. Es wurde vor fast genau einhundert Jahren von einem sehr vermögenden Industriellen für dessen junge Frau erbaut. Er schenkte es ihr als Sommerresidenz zur Hochzeit.“ Offenbar war sein Wissen selbst noch über die seltsamsten Dinge unerschöpflich.
„War sie glücklich?“ fragte ich, mich der zauberhaften Abendstimmung des Sees vollkommen hingebend.
„Sie schon.“ Sagte Valentin und deutete damit an, dass er auch dazu mehr zu erzählen wusste.
„Wer war es nicht?“ fragte ich wieder interessiert.
„Ihr Mann, der schwerreiche Industrielle.“ Valentin nickte dazu bedächtig. „Er hatte alles, was ein Mann sich wünschen konnte. Geld, eine schöne Frau, eine bedeutende Stellung in der Gesellschaft. Doch all sein Reichtum konnte das aufziehende Unglück nicht abwenden.“ Versonnen lächelnd wanderte nun Valentins Blick hinaus auf den See. Sein verklärtes Gesicht sah offensichtlich irgendwo da draußen im aufkommenden Nebel über dem Wasser längst verlorene Bilder vorbeiziehen.
„Welches Unglück widerfuhr ihm?“
Valentin hob nachdenklich sein Weinglas an und drehte es unschlüssig in seinen Fingern. Er nippte daran, bevor er weiter sprach. „Das ewige Drama der Liebe traf auch ihn.“ Nun fuhr er mit fester Stimme fort und sah mich an. „Seine Frau verliebte sich in den Architekten des Hauses, ein begnadeter junger Baumeister aus Frankreich. Zuerst gelang es den beiden ihre Liaison geheim zu halten. Oft hielt sich junge Dame ohne ihren Mann dort oben auf. Seine Geschäfte waren der Grund für ihre Einsamkeit. Es hätte eine Episode bleiben können und wohl auch müssen. Aber sie konnten nicht mehr voneinander lassen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der gehörnte Ehemann davon erfahren würde. Kleine Seitensprünge gehörten damals durchaus zum tolerierten Verhalten des neureichen Bürgertums, sofern die angemessene Diskretion gewahrt wurde. Doch die Liebe der beiden ließ sie unvorsichtig werden. Zu offen zeigten sie ihre Zuneigung und die Leute begannen darüber zu sprechen.“
Valentin holte tief Luft. Eines Morgens fanden Hausdiener den zerschlagenen Körper des jungen Architekten auf der Terrasse vor dem Haus. Neben ihm lagen die Überreste des steinernen Balkons, mit dem er abgestürzt war. War es sein eigener Konstruktionsfehler? Der Unfall konnte nicht erklärt werden, da sich keine Mängel an der Bausubstanz zeigten. Man schloss die Akten. Nur kurz darauf erhängte sich die junge Dame im Haus. Natürlich untersuchten die Justizbehörden bei zwei Todesfällen in so kurzer Zeit doch etwas genauer. Doch es stellte sich heraus, dass die Dame Drogenabhängig war. Das belegten die Akten des Hausarztes. Außerdem litt sie an sehr starken Depressionen. Offenbar beging sie während eines Krankheitsschubs in den Freitod. Die Geschichte war sehr tragisch.“
Ich sah interessiert hinauf zum Haus. „Ihr Mann hatte etwas mit dem Tod der beiden zu tun?“
„Ihm konnte nichts nachgewiesen waren. Doch entsprechende Gerüchte hielten sich bis zu seinem Tod. Er betrat übrigens nie wieder das Château. Es blieb fast dreißig Jahre unbewohnt.“
„Was wurde aus ihm, dem Industriellen?“
„Er heiratete wieder. Aber nie wieder kehrten Wärme und Vertrauen in seine Seele zurück. Die Enttäuschung über die Liebe seines Lebens verhärtete sein Herz.“
„Wissen sie wer heute dort oben lebt?“
„Ja, das weiß ich. Heute lebt dort oben sehr zurückgezogen ein verschlossenes älteres Ehepaar, das aus Russland zu uns emigrierte. Sie eröffneten im Château einen sehr exklusiven und, wie soll ich sagen, sehr ungewöhnlichen Club. In seiner Art ist es die erste Adresse in Europa.“
Ich sah Valentin an. „Was für einen Club?“
Valentin lachte. „Die Clubmitglieder schätzen die diskrete Atmosphäre und hüten diese sorgsam nach außen.“
Ihm war es wieder einmal gelungen, meine Neugier anzustacheln. „Kommen sie Valentin,“ lächelte ich zurück, „sie wissen doch wirklich alles. Erzählen sie es mir. Ich verspreche auch zu schweigen.“
„Sie sollten nicht jedes Geheimnis lüften wollen.“ riet er mir mit verschwörerischer Miene. „Es könnte sich als schockierend herausstellen.“
Der Genuss des Weines ließ mich ein wenig übermütig werden. „Gut, stellen wir die Frage anders herum. Sie sind sicher Mitglied dort oben?“
„Seit einigen Jahren.“ bestätigte Valentin, offensichtlich belustigt.
„Was müsste ich tun, um dort Mitglied zu werden?“ diesmal schaute ich ihn schelmisch an. „Müsste ich Direktor eines Unternehmens sein oder hoher Funktionär einer Partei?“
„Ganz und gar nicht. Sie bräuchten zum ersten eine Empfehlung, zum Beispiel von mir, die Bereitschaft einen beachtlichen Monatsbeitrag zu zahlen, was in ihrem Fall die Aufgabe des Empfehlenden wäre und…“ Er zögerte.
„Und…?“ ließ ich nicht locker. Das alles klang doch sehr abenteuerlich.
„…eine gehörige Portion Mut.“
Er forderte mich heraus. „Sie reden um den heißen Brei.“
Valentin lehnte sich zurück. „Schon möglich.“
Ich sah hinauf zum Château. „Sie müssten für mich bezahlen? Nur zum Beispiel.“ fragte ich keck und konnte mir keinen Reim darauf machen.
„So wäre es. Nur zum Beispiel.“ Hielt er mich hin.
War es der Wein, die gelöste Atmosphäre, das angenehm Unangenehme, weil mit einem Hauch von Unanständigkeit behaftete Zusammensein mit diesem Mann, der Zauber des Ortes? Ich fühlte mich seltsam locker, es machte mir Spaß hier mit ihm hier zu sitzen und seine Gesellschaft zu genießen. Mir war klar, dass wir nicht zufällig hier in Sichtweite der geheimnisvollen Villa saßen. Valentin spielte mit mir. Und ich ließ mich auf dieses Spiel ein. „Würden sie für mich bezahlen?“ Ich sah ihm direkt in die Augen.
Er hielt mir stand. „Das würde ich.“
Er sagte das in einer Art, die mich ausgesprochen verwirrend berührte. Ich spürte, dass sich dahinter eine Botschaft verbarg. Oder ein Lockruf? Wollte er mich dorthin bringen? „Selbstverständlich nur theoretisch.“ Schränkte er in diesem Augenblick ein.
Der kurze Zauber, der mich umgeben hatte, war damit wieder zerrissen. Er war wirklich ein Magier, der mich in seinen Bann zog, wieder abstieß und dann von neuem umgarnte, so dass ich jegliche Orientierung verlor.
„Wollen wir noch einen Wein trinken?“
Ich ignorierte diesmal ganz bewusst die Uhrzeit. Dafür war der Abend einfach zu schön, zu abenteuerlich. „Wenn sie noch möchten.“
Valentin bestellte. „Erzählen sie mir etwas über sich.“ Forderte er mich dann überraschend auf.
Auch das machte mir diesmal nichts aus. Ich erzählte ihm von der Scheidung meiner Eltern und wie wir hierher gezogen waren.
Er hörte interessiert zu und stellte dann und wann Fragen, die ich bereitwillig beantwortete. Vom Château sprach er nicht mehr.
Erst als das Lokal am See fast leer war, gingen auch wir zurück zum Auto. Als wir am Ufer entlang zum Parkplatz spazierten, da wünschte ich mir beinahe, dass er mich in den Arm nehmen würde. Natürlich tat er das nicht. Stattdessen half er mir formvollendet in den Wagen.
Wir fuhren die nun sehr einsame Landstraße zurück. Die Uhr zeigte wenige Minuten nach Mitternacht. Bildete ich mir nur ein, dass Valentin etwas von mir wollte? Wünschte ich mir das nur? Ich fand darauf keine Antwort. Allerdings wirkte der Abend noch stark auf mich. Ich empfand ein gewisses Gefühl von Frust. Valentin hatte mir weder seine Zuneigung erklärt, die ich zwar stark vermutete und mich nicht, oder besser nicht mehr überrascht hätte, noch hatte er das Geheimnis des Château gelüftet. Wir schwiegen beide, so wie am Freitag zuvor, als er mich schon einmal heim brachte. Aus diesem Frust-Gefühl heraus wagte ich noch einmal einen Vorstoß, auch um die Stille im Wagen zu beenden. Valentin war ein intelligenter Mann. Ich spürte, dass er nichts dem Zufall überließ. Er hatte mir das Buch des Fotografen Szynalski gezeigt und mich heute nahe ganz bewusst in die Nähe der Villa geführt. „Gibt es eine Verbindung zwischen Szynalski und dem Château?“ fragte ich, meiner Vorahnung folgend.
Valentin erwiderte darauf entgegen seiner sonstigen Art zuerst nichts. Erst nach einer Weile begann er zu sprechen. „Szynalski kaufte das Château vor langer Zeit. Er nutzte es als Residenz, wenn er in Europa weilte. Später diente es oft als Szenerie seiner Fotoserien. Nachdem er seine Frau kennen gelernt hatte, lebten sie sogar beide für einige Zeit darin. Es diente den Bewunderern des großen Fotografen als Treffpunkt. Nicht selten war es Ort von ausschweifenden Sessionen. Später institutionalisierte Szynalski diese Treffen durch die Clubgründung. Lange bevor dieser Begriff Einzug in unsere Sprache fand, war das Château bereits eine Art Swingerclub, ein Ort, an dem sexuelle Erfüllung im Vordergrund stand.“
Mir stockte der Atem über Valentins Offenheit. Er erzählte über diese Dinge, als sei es das natürlichste der Welt.
„Für Szynalski stellten Sexualität, Dominanz und Unterwerfung einen geradezu tantrischen Dreiklang dar. Seiner Philosophie folgend hatten Männer und Frauen in diesen Mauern nicht einfach Sex miteinander. Nein, dort lebten sie Phantasien aus.“ Valentin machte eine Pause und starte auf die im Lichtkegel der Scheinwerfer beleuchtete Straße vor uns. „Phantasien, die sehr viel mit Gewalt und Schmerz zu tun hatten.“
Mein Mund war sehr trocken und ich spürte, wie Valentin ein feines Spinnennetz um mich wob. Seine Stimme zauberte Gebilde in mein Denken, die verlockend und abstoßend zugleich waren. Beinahe gewaltsam musste ich die Wirklichkeit zurück in mein Denken zwingen. Ich saß hier im Auto des Vaters meiner besten Freundin und wir unterhielten uns über Sex. Ein kräftiges Zwicken in meiner Magengegend machte mir mehr als deutlich, dass ich jetzt besser zu einem schnellen Ende fand. Andernfalls waren die Konsequenzen gar nicht auszumalen. Es gehörte sich schlicht nicht mich mit diesem Mann einzulassen und instinktiv spürte ich auch, dass ich ihm nichts entgegen zu setzen hatte. Für ihn war ich ein naiver Zeitvertreib. Wenn da nicht diese Wärme wäre.
Ich spürte die Schwere des Weins in meinen Adern. Müdigkeit und eine seltsame Leichtigkeit hatten von mir Besitz ergriffen. Die warnenden Stimmen in meinem Inneren verstummten beinahe so schnell, wie sie aufkamen. Die ruhige und überlegene Dominanz meines Gastgebers waren ein betäubendes Narkotikum. Ich mochte seine Nähe und sie schmeichelte mir. Dazu kehrte sich das gerade noch als unmöglich empfundene meiner Situation ins genaue Gegenteil. Der Reiz des Verbotenen, des Verruchten flutete Körper und Geist.
Eigentlich war ich verloren. Das war mir klar. Wenn Valentin jetzt über mich hergefallen wäre, ich hätte ihm keinen Widerstand entgegen gesetzt. Ich war bereits Wachs in seinen Händen die Gefühle einer jungen Frau in mir kamen zum tragen. Verlangen, das war es, was ich spürte.
Ich schloss die Augen und erwartete, wie seine Hand schamlos zu mir wanderte und Besitz von meinem Körper ergriff, sich nahm, was sie wollte. Ich spürte ihren fordernden Griff, die männlich raue Haut seiner Finger auf den Innenseiten meiner weichen Schenkel. Ich sah seine Finger über die Lippen meines Mundes gleiten und wie ich ihnen bereitwillig den Zugang gewährte, meine Zunge sie freudig empfing. Stöhnend legte ich meine Hände auf meine Brüste und begann diese zu massieren. Dazu spreizte ich meine Beine in Selbstaufgabe.
„Amelie.“ Ich vernahm Valentins leise Stimme und öffnete meine Augen.
„Amelie, wir sind bei ihnen angekommen. Sie sind zu Hause.“ sagte Valentin sanft.
Ich brauchte Sekunden, um zurück in die Wirklichkeit zu finden. Offensichtlich war ich eingeschlafen und hatte nicht mitbekommen, wie wir zurück in die Stadt kamen.
„Es war ein sehr angenehmer Abend. Vielen Dank für ihre Gesellschaft.“ Valentin stieg aus dem Wagen, um mir die Tür zu öffnen.
Noch immer darum bemüht Traum und Wirklichkeit richtig zu trennen stieg ich aus. „Vielen Dank für die Einladung. Es hat auch mir sehr gut gefallen.“ erwiderte ich.
Valentin wandte sich schon lächelnd von mir ab, als ich seine Hand ergriff.
Er blieb stehen und sah mich mit seinen betörend tiefgründigen Augen an.
„Sie sind ein interessanter Mann.“ Mit diesen Worten ließ ich seine Hand los und ging zur Haustür. Als ich diese hinter mir zuschlug hörte ich leise den Wagen davon fahren. Ich lehnte mich erschöpft mit dem Rücken gegen die Tür, spürte das kühle Metall des Rahmens und des Glases darin. Tief sog ich die Luft ein.